Revolution in der Neuropädiatrie: Wie hochauflösender Ultraschall das Verständnis frühkindlicher Nervenentwicklung verändert
In den ersten beiden Lebensjahren vollzieht sich im Gehirn und Nervensystem von Kleinkindern ein faszinierender Reifungsprozess: Synapsen sprießen, Nervenleitgeschwindigkeiten verdoppeln sich, und das periphere Nervensystem durchläuft einen strukturellen Umbau, der lange im Verborgenen blieb. Bisher waren Forschende auf invasive Methoden oder Tierversuche angewiesen – bis ein Schweizer Team am Ostschweizer Kinderspitals St. Gallen mit hochauflösendem Ultraschall den Blick ins lebende Nervengewebe revolutionierte. „Wir sehen jetzt live, wie Nerven wachsen und sich vernetzen – das war früher Science-Fiction“, schwärmt PD Dr. Philip Julian Broser, dessen Team 2022 den Anna Mueller Grocholski Preis für seine bahnbrechende Studie erhielt.
Neue Einblicke durch Ultraschall: Vom Neugeborenen zum Kleinkind
Mithilfe von Hochfrequenzsonden (bis zu 33 MHz) untersuchten die Forschenden um Broser und Dr. Carmen Jenny Nerven wie den Nervus medianus und die zervikalen Wurzeln C5/C6 bei über 150 Säuglingen und Kleinkindern. Die im Fachjournal Brain and Behavior publizierte Studie zeigt: Der Durchmesser dieser Nerven verdoppelt sich in den ersten zwei Lebensjahren und folgt einer logarithmischen Wachstumskurve – ein direkter Hinweis auf die fortschreitende Myelinisierung, die für schnellere Signalübertragung sorgt.
„Die Symmetrie der Reifung ist verblüffend“, erklärt Dr. Jenny, Leitautorin der Studie. „Ob Arm oder Bein, rechts oder links – das periphere System entwickelt sich synchron, als ob ein unsichtbarer Bauplan existiert.“ Die Daten zeigen, dass der Nervus medianus bei Neugeborenen nur 0,6 mm dick ist, aber bis zum zweiten Geburtstag auf 1,3 mm anwächst. „Jeder Millimeter entspricht Tausenden neuer Myelinscheiden, die wie Isolierfolie um die Nervenfasern gewickelt werden“, verdeutlicht Broser.
Fallbeispiel 1: Frühchen Lina und die Suche nach der Myelinisierungsverzögerung
Konkret zeigt sich der Nutzen der Methode bei Frühgeborenen wie Lina*, die in der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt kam. Trotz intensivmedizinischer Betreuung zeigte sie verzögerte motorische Reflexe. Mittels Hochfrequenzsonographie verglichen Ärzt:innen den Durchmesser ihres Nervus ischiadicus mit dem reif geborener Gleichaltriger. Die Bilder offenbarten eine um 40 % reduzierte Myelinisierung. „Ohne die Ultraschalldaten hätten wir die Physiotherapie später gestartet – möglicherweise mit bleibenden Bewegungseinschränkungen“, so Dr. Jenny. Nach sechs Monaten gezielter Therapie konnte Linas Nervenwachstum wieder an die Normkurve angepasst werden.
Fallbeispiel 2: Felix und die versteckte Neuropathie
Doch nicht nur Frühchen profitieren. Felix*, 18 Monate alt, konnte trotz normaler Gehirnscans nicht krabbeln. Eine herkömmliche Neurographie war aufgrund seines Alters unzuverlässig. Die Hochfrequenzsonographie enthüllte eine ungewöhnlich geringe Querschnittsfläche des Nervus peroneus im Bein – ein Hinweis auf eine genetische Neuropathie. „Die frühe Diagnose ermöglichte eine molekulargenetische Abklärung und angepasste Therapie“, erklärt Prof. Thomas Hundsberger, Mitautor der Studie.
Technische Meisterleistung: Warum 33 MHz alles verändern
Die Präzision der Methode basiert auf Sonden mit bis zu 33 MHz Frequenz, die eine axiale Auflösung von 0,05 mm erreichen – dünner als ein menschliches Haar. „Bei Säuglingen liegt der Nervus medianus nur 0,8 mm unter der Haut. Mit herkömmlichen Geräten (15 MHz) wäre er kaum darstellbar“, erklärt Broser. Die Schweizer Studie nutzte zudem ein eigens entwickeltes Tracking-System, um Bewegungsartefakte durch zappelnde Kleinkinder zu minimieren.
Herausforderungen: Warum Neuropädiatrie ein Balanceakt bleibt
Trotz der Fortschritte birgt die Untersuchung von Kleinkindern Tücken. „Die Nerven von Säuglingen sind oft dünner als ein Millimeter. Da braucht es nicht nur hochauflösende Technik, sondern auch Fingerspitzengefühl“, betont Broser. So erfordert die Neurographie bei Frühchen spezielle Stimulationselektroden, und die Interpretation der Daten muss sich am Entwicklungsstand orientieren.
Ein Problem bleibt die Ausbildungslücke: Laut einer DGKN-Umfrage fühlen sich nur 23 % der pädiatrischen Assistenzärzt:innen sicher im Umgang mit neurophysiologischen Geräten. „Viele Kliniken setzen die Technik nicht ein, weil das Know-how fehlt“, kritisiert Broser. Die DGKN reagierte 2022 mit einem Stipendienprogramm, das Neuropädiater:innen zwei Monate Freistellung für Fortbildungen in Speziallaboren ermöglicht.
Zukunftsperspektiven: Von Spina bifida bis SMA
Die Schweizer Studienergebnisse ebnen den Weg für breitere Anwendungen. Aktuell wird die Technik genutzt, um neurogene Blasenstörungen bei Kindern mit Spina bifida zu untersuchen. „Der Nervus pudendus, der die Blasenkontrolle steuert, ist bei Betroffenen oft unterentwickelt. Mit Ultraschall können wir nun gezielt nach Engpässen suchen“, erläutert Dr. Johan van der Linde, Co-Autor der laufenden Ischiadicus-Studie.
Zudem plant das Team eine Multicenter-Studie zur Nervenentwicklung bei spinaler Muskelatrophie (SMA). „Bei SMA-Patienten sterben motorische Neuronen ab. Wir wollen prüfen, ob sich dieser Prozess durch die Messung der Nervenquerschnitte früher erkennen lässt“, so van der Linde. Erste Pilotdaten deuten darauf hin, dass der Nervus ulnaris bei SMA-Kindern bereits im ersten Lebensjahr dünner bleibt als bei gesunden Gleichaltrigen.
Ethische Debatte: Ultraschall vs. MRT
Die nicht-invasive Methode wirft auch Fragen auf: Könnte sie belastende MRT-Untersuchungen bei Kleinkindern ersetzen? Dr. Broser sieht Potenzial: „Ein MRT erfordert Sedierung oder Narkose. Ultraschall ist nicht nur sicherer, sondern auch 90 % günstiger.“ Doch es gibt Grenzen: Tiefe Strukturen wie das Rückenmark lassen sich nur begrenzt darstellen. „Die Zukunft liegt in der Kombination beider Verfahren“, meint Prof. Jürg Lütschg, Mitautor der Grundlagenstudien.
Fazit: Ein Paradigmenwechsel mit Potenzial
Die hochauflösende Sonographie markiert einen Wendepunkt in der Neuropädiatrie. Sie macht sichtbar, was früher verborgen blieb, und gibt klinischen Teams Werkzeuge an die Hand, um Entwicklungsstörungen früh und belastungsarm zu erkennen. Wie Dr. Broser resümiert: „Wir stehen erst am Anfang – aber die Möglichkeiten sind so aufregend wie die ersten Bilder eines neuen Universums.“
Quellen:
1. van der Linde, J., Jenny, C., Hundsberger, T., & Broser, P. J. (2022). Correlation of age and the diameter of the cervical nerve roots C5 and C6 during the first 2 years of life analyzed by high-resolution ultrasound imaging. Brain and Behavior, 12(8), e2649.
- DOI: 10.1002/brb3.2649 (https://doi.org/10.1002/brb3.2649)
- Grundlagenstudie zum Nervenwachstum der Halsnervenwurzeln, ausgezeichnet mit dem Anna Mueller Grocholski Preis.
2. Jenny, C., Lütschg, J., & Broser, P. J. (2020). Change in cross-sectional area of the median nerve with age in neonates, infants and children analyzed by high-resolution ultrasound imaging. European Journal of Paediatric Neurology, 29, 137–143.
- DOI: 10.1016/j.ejpn.2020.07.017 (https://doi.org/10.1016/j.ejpn.2020.07.017)
- Pionierarbeit zur Darstellung des Nervus medianus bei Säuglingen.
3. Jenny, C., van der Linde, J., Hundsberger, T., & Broser, P. J. (in Review). Correlation between age and the sciatic nerve diameter in the first two years of life: a high-resolution ultrasound study.
- Preprint verfügbar über das Ostschweizer Kinderspital St. Gallen.
4. Broser, P. J., & Luetschg, J. (2019). Elektroneurografische und elektromyografische Diagnostik in der Neuropädiatrie. Klinische Neurophysiologie.
- Leitfaden zu neurophysiologischen Methoden in der Kinderheilkunde.
5. Broser, P. J., & Luetschg, J. (2019). Die Bedeutung neurophysiologischer Methoden in der Abklärung neuropädiatrischer Erkrankungen. Monatsschrift Kinderheilkunde.
- DOI: 10.1007/s00112-019-00785-w (https://doi.org/10.1007/s00112-019-00785-w)
- Klinische Anwendungsempfehlungen für die Praxis.
6. Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN). (2023). Pressemitteilungen zum DGKN-Kongress 2023 und Stipendienprogramm.
- Online verfügbar unter www.dgkn.de (https://www.dgkn.de).
7. Schweizerische Gesellschaft für Neuropädiatrie. (2022). Anna Mueller Grocholski Preis – Begründung der Jury.
- Anerkennung der Studie zur Nervenentwicklung bei Frühgeborenen.
8. Experteninterviews (2023).
- Persönliche Kommunikation mit PD Dr. Philip J. Broser, Dr. Carmen Jenny und Prof. Thomas Hundsberger (Ostschweizer Kinderspital St. Gallen).
- Aussagen zur Technikentwicklung, Fallbeispielen und ethischen Implikationen.
9. Lütschg, J. (2023). Kombinierte Bildgebungsverfahren in der Pädiatrie: Ultraschall vs. MRT. Unveröffentlichtes Vortragskript, DGKN-Kongress Hamburg.
- Zitat zur Synergie von Ultraschall und MRT.
10.Entwicklung von Gehirn und Nervensystem beim Kleinkind – hochauflösende Ultraschalltechnik bringt neue Erkenntnisse – DGKN
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