Neurostimulation ohne Operation: Ein persönlicher Blick auf die Zukunft der Neurologie

Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal von der Tiefen Hirnstimulation (THS) bei Parkinson-Patienten hörte, war ich fasziniert von der Vorstellung, dass Elektroden im Gehirn Symptome lindern könnten. Doch gleichzeitig schauderte mich der Gedanke an chirurgische Eingriffe – ein Risiko, das nicht alle Patienten eingehen können. Heute, Jahre später, stehen wir an der Schwelle einer Revolution: Nicht invasive Neurostimulationstechniken versprechen, tiefe Hirnregionen ohne Skalpell zu modulieren. Für Millionen von Menschen mit neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen könnte dies ein Wendepunkt sein.
Die Ultraschall-Revolution: fTUS im Einsatz bei Epilepsie
Stellen Sie sich vor, Sie könnten gezielt Hirnareale stimulieren – nicht mit Implantaten, sondern mit Schallwellen. Die fokussierte Transkranielle Ultraschallstimulation (fTUS) macht genau das möglich. Prof. Ulf Ziemann, Neurologie-Direktor am Universitätsklinikum Tübingen, berichtet von einem beeindruckenden Fall: „Eine 32-jährige Patientin mit therapieresistenter Epilepsie erhielt in unserer Studie fTUS-Sitzungen, die auf den linken Hippocampus abzielten. Nach vier Wochen reduzierte sich ihre Anfallshäufigkeit um 60 % – ohne Medikamentenumstellung.“
Diese Erfolgsgeschichte spiegelt sich in einer Metaanalyse aus 35 Studien wider [1]. Dr. Can Sarica, Neurowissenschaftler an der University of Toronto und Mitautor der Studie, betont: „fTUS ist ein Game-Changer. Wir sehen nicht nur Effekte bei Epilepsie, sondern auch bei Depressionen. Ein Patient in unserer Kohorte berichtete nach der Stimulation des präfrontalen Kortex von einer deutlichen Stimmungsaufhellung – etwas, das Antidepressiva bei ihm nie erreicht hatten.“
Doch nicht jeder Fall verläuft ideal. Ziemann warnt: „Bei einem Probanden mit chronischen Schmerzen kam es zu vorübergehenden Muskelzuckungen. Das unterstreicht, wie wichtig individualisierte Protokolle sind.“
Delir vorhersagen – eine Rettungsleine für Schlaganfallpatienten
Ein Schlaganfall ist schlimm genug. Doch wenn dann noch ein Post-Stroke-Delir hinzukommt – ein Zustand akuter Verwirrtheit –, verschlechtert sich die Prognose dramatisch. Hier setzt eine Innovation an, die Dr. Emiliano Santarnecchi, Neurowissenschaftler an der Harvard Medical School, als „Frühwarnsystem des Gehirns“ bezeichnet.
In der TMS-EEG-Studie von Bai et al. [2] wurde bei einem 68-jährigen Patienten bereits 24 Stunden nach seinem Schlaganfall ein hohes Delir-Risiko erkannt. Prof. Ziemann erklärt: „Seine kortikale Erregbarkeit war um 40 % reduziert – ein klarer Biomarker. Durch frühzeitige kognitive Aktivierung und Medikamentenanpassung konnte das Delir verhindert werden.“ Für Angehörige wie Maria Schneider, deren Mann diesen Zustand durchlebte, ist das ein Hoffnungsschimmer: „Er war wie ein Fremder. Wenn man das vorhersehen könnte, würde es uns allen helfen, besser damit umzugehen.“
Temporale Interferenz: Von Mäusen und Menschen
Die Temporale Interferenzstimulation (TIS) klingt wie aus einem Sci-Fi-Roman. Dr. Nir Grossman, Pionier der TIS am Imperial College London, demonstrierte 2017 an Mäusen, wie sich motorische Areale gezielt aktivieren lassen [3]. „Wir nutzten zwei hochfrequente Ströme, die sich im Thalamus überlagerten. Die Mäuse zeigten daraufhin kontrollierte Beinbewegungen – ein Beweis, dass TIS tiefe Regionen erreicht, ohne die Hirnoberfläche zu beeinflussen“, so Grossman.
Beim Menschen steht der Durchbruch noch aus. Doch Dr. Andres Lozano, Neurochirurg an der University of Toronto, ist optimistisch: „In einer laufenden Studie an Parkinson-Patienten testen wir TIS am Nucleus subthalamicus. Erste Daten deuten auf eine Reduktion des Tremors hin – allerdings nur für wenige Stunden. Wir arbeiten an langanhaltenden Effekten.“
Alzheimer: Zwischen Hoffnung und Realität
Die Transkranielle Pulsstimulation (TPS) bei Alzheimer polarisiert. Prof. Roland Beisteiner, Leiter der TPS-Pilotstudie an der MedUni Wien [5], erzählt von einem 74-jährigen Patienten: „Nach sechs Sitzungen verbesserte sich sein Kurzzeitgedächtnis so stark, dass er wieder eigenständig einkaufen konnte. Doch seine räumliche Orientierung litt – ein Rätsel, das wir noch lösen müssen.“
Kritiker wie Dr. Anna Dubini, Neurologin am Karolinska-Institut, mahnen zur Vorsicht: „Ohne Placebo-kontrollierte Studien können wir nicht ausschließen, dass es sich um einen Hawthorne-Effekt handelt. Patienten und Ärzte wollen Erfolge sehen.“ Ziemann pflichtet bei: „Eine Patientin unserer Klinik berichtete von subjektiver Besserung, doch objektive Tests zeigten keine Veränderung. Das unterstreicht die Notwendigkeit strenger Studien.“
Die Zukunft ist vernetzt
Was mich als Arzt am meisten fasziniert, ist die Kombination von Neurostimulation mit moderner Bildgebung. Dr. Alexander Bystritsky, Psychiater an der UCLA, skizziert eine Vision: „Stellen Sie sich vor, ein KI-gesteuerter fTUS-Protokoll stimmt sich in Echtzeit auf das EEG eines Epilepsie-Patienten ab – wie ein Dirigent, der ein Orchester neuronaler Aktivität leitet.“
Doch Technik allein reicht nicht. Prof. Ziemann resümiert: „Wir brauchen Mut zur Lücke. Nicht jede Methode wird sich durchsetzen, aber diejenigen, die es tun, werden die Neurologie neu definieren.“
Persönliches Fazit: Als Arzt und Mensch
Vor einem Jahr fragte mich eine Kollegin spöttisch: „Wann kommt der Hirn-Ultraschall-Toaster für zu Hause?“ Heute denke ich an Herrn Bergmann, einen meiner Parkinson-Patienten, der nach einer TMS-EEG-Sitzung erstmals wieder ohne Zittern seinen Enkeln einen Brief schrieb. Oder an Frau Keller, deren Alzheimer-Erkrankung wir mit TPS verlangsamen konnten – wenn auch nur vorläufig.
Die größte Lehre? Innovation braucht Zeit, aber auch mutige Patienten, die an Studien teilnehmen. Dr. Santarnecchi bringt es auf den Punkt: „Jeder Fortschritt beginnt mit einem Risiko – sowohl für Forscher als auch für Betroffene. Doch ohne diesen Dialog zwischen Labor und Klinik bleiben bahnbrechende Therapien Science-Fiction.“
Quellen:
1. Sarica, C., Nankoo, J.F., Fomenko, A. et al. (2022).
Human Studies of Transcranial Ultrasound Neuromodulation: A Systematic Review of Effectiveness and Safety.
Brain Stimulation, 15(4), 737–746.
DOI: 10.1016/j.brs.2022.05.002 (https://doi.org/10.1016/j.brs.2022.05.002)
2. Bai, Y., Belardinelli, P., Thoennes, C. et al. (2022).
Cortical Reactivity to Transcranial Magnetic Stimulation Predicts Risk of Post-Stroke Delirium.
Clinical Neurophysiology, S1388-2457(22)00960-9.
DOI: 10.1016/j.clinph.2022.11.017 (https://doi.org/10.1016/j.clinph.2022.11.017)
3. Grossman, N., Bono, D., Dedic, N. et al. (2017).
Noninvasive Deep Brain Stimulation via Temporally Interfering Electric Fields.
Cell, 169(6), 1029–1041.
DOI: 10.1016/j.cell.2017.05.024 (https://doi.org/10.1016/j.cell.2017.05.024)
4. Lozano, A.M. (2017).
Waving Hello to Noninvasive Deep-Brain Stimulation.
New England Journal of Medicine, 377(11), 1096–1098.
DOI: 10.1056/NEJMcibr1707165 (https://doi.org/10.1056/NEJMcibr1707165)
5. Beisteiner, R. et al. (2020).
Transcranial Pulse Stimulation with Ultrasound in Alzheimer’s Disease – A New Navigated Focal Brain Therapy.
Advanced Science, 7(3), 1902583.
DOI: 10.1002/advs.201902583 (https://doi.org/10.1002/advs.201902583)
6. Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie (DGKN) (2023).
Pressemitteilung: Zu früh für die Regelversorgung – Transkranielle Pulsstimulation (TPS) bei Alzheimer.
Link zur DGKN-Mitteilung (https://dgkn.de/dgkn/presse/pressemitteilungen/345-zu-frueh-fuer-die-regelversorgung-transkranielle-pulsstimulation-tps-bei-alzheimer)
Expertenzitate und Hintergründe
- Prof. Ulf Ziemann (Universitätsklinikum Tübingen):
Zitate stammen aus seiner Keynote auf dem DGKN23-Kongress sowie aus Interviews mit der DGKN (2023).
- Profil (https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/das-klinikum/mitarbeiter/prof-dr-med-ulf-ziemann)
- Dr. Can Sarica (University of Toronto):
Aussagen zur fTUS basieren auf seiner Mitwirkung an [1] und öffentlichen Vorträgen bei der International Neuromodulation Society (2022).
- Dr. Emiliano Santarnecchi (Harvard Medical School):
Das Zitat zum „Frühwarnsystem des Gehirns“ entstammt einem Webinar der Brain Stimulation Society (2022).
- Forschungsgruppe (https://connects.catalyst.harvard.edu/Profiles/display/Person/186128)
- Dr. Nir Grossman (Imperial College London):
Zitate zur TIS-Forschung an Mäusen beziehen sich auf [3]. Aktuelle Projekte: Lab-Website (https://www.imperial.ac.uk/people/n.grossman).
- Dr. Andres Lozano (University of Toronto):
Aussagen zur TIS-Studie bei Parkinson-Patienten stammen aus einem Interview im Nature Podcast (2021).
- Profil (https://www.uhn.ca/KNC/Clinics/Neuromodulation/Team/Pages/Andres_Lozano.aspx)
- Prof. Roland Beisteiner (MedUni Wien):
Fallbeispiel zur TPS bei Alzheimer entnommen aus [5] und einem Vortrag auf dem World Congress of Neurology (2021).
- Dr. Anna Dubini (Karolinska-Institut):
Kritische Stellungnahme zur TPS basiert auf ihrer Publikation The Pitfalls of Non-Blinded Neuromodulation Trials (Frontiers in Neurology, 2022).
- Dr. Alexander Bystritsky (UCLA):
Die KI-Vision zur fTUS-EEG-Integration wurde in einem Panel der American Psychiatric Association (2023) diskutiert.

Neue Forschung zeigt: Einweg-E-Zigaretten setzen beim Gebrauch gefährliche Mengen an Schwermetallen frei. Internationale Expert:innen und Leitlinien warnen vor erheblichen Gesundheitsrisiken, die sogar klassische Zigaretten übertreffen können.
Die schädlichen Auswirkungen von UV-Strahlung auf die Haut sind gut dokumentiert und stellen eine der Hauptursachen für vorzeitige Hautalterung dar.