Chronische Wunden neu denken: Warum Heilen nicht immer das Hauptziel sein kann
Chronische Wunden sind ein bedeutendes medizinisches Problem mit großer Komplexität und hoher klinischer Relevanz. Häufig wird dabei der Behandlungserfolg noch immer ausschließlich am vollständigen Verschluss der Wunde gemessen. Doch für viele Betroffene ist dieses Ziel unrealistisch. Eine aktuelle Veröffentlichung der Fachgesellschaft Initiative Chronische Wunden e. V. (ICW) (DOI: 10.1007/s00105-022-04973-y) schlägt deshalb einen differenzierteren Ansatz vor, der die individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse der Patient:innen konsequent in den Mittelpunkt stellt.
Vielfältige Ursachen und komplexe Verläufe
Chronische Wunden ohne Aussicht auf vollständige Heilung resultieren aus unterschiedlichen Krankheitsbildern wie fortgeschrittener peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK), chronischer venöser Insuffizienz, Strahlenschäden oder Druckgeschwüren (Dekubitus). Neben den lokalen Wundproblemen erschweren oft systemische Begleiterkrankungen, unzureichende Druckentlastung und mangelnde Therapietreue den Heilungsverlauf. Auch psychosoziale Faktoren, etwa Isolation oder Depression, tragen häufig dazu bei.
Patient:innenzentrierung als Grundlage moderner Wundversorgung
Prof. Dr. Joachim Dissemond vom Universitätsklinikum Essen betont, dass ein rein kurativer Therapieansatz der Situation vieler Patient:innen nicht entspricht. Vielmehr sollten die Behandlungsziele individuell auf die Patient:innen angepasst werden. Hierzu betont der Experte:
„Wir wissen schon heute, dass nicht alle Patient:innen mit dem Symptom chronische Wunde gleich sind. Daher werden wir uns in der Zukunft deutlich mehr um eine zielgerichtete und individuelle Wundtherapie bemühen müssen. Derzeit gibt es bereits erste sehr vielversprechende Ansätze, die dann aber bei allen Patient:innen angewendet werden sollten. Daher müssen zuerst individuelle Faktoren in Wunden gemessen und daraufhin gezielt behandelt werden. Neben der Lokaltherapie mit ‚intelligenten‘ Wundauflagen könnten das durchaus auch systemische Behandlungsansätze, beispielsweise mit spezifischen Antikörpern, sein.“
Auch die S3-Leitlinie „Lokaltherapie schwerheilender und/oder chronischer Wunden“ der AWMF legt den Fokus auf eine individuelle, an das klinische Erscheinungsbild angepasste Lokaltherapie und betont die Bedeutung eines interdisziplinären, patient:innenzentrierten Ansatzes, der Diagnostik, Therapie und Nachsorge eng miteinander verbindet. Sie bietet umfassende, evidenzbasierte Empfehlungen für die Behandlung chronischer Wunden, insbesondere bei Patient:innen mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit, Diabetes mellitus oder chronischer venöser Insuffizienz.
Realistische Ziele jenseits des Wundverschlusses
Der Umgang mit chronischen Wunden erfordert heute mehr als den Fokus auf die Heilung: Schmerzreduzierung, Infektionsschutz sowie die Erhaltung der Mobilität und sozialen Teilhabe gewinnen an Bedeutung. Wenn eine komplett heilende Therapie machbar ist, bleibt sie selbstverständlich das primäre Ziel. Doch für viele Patient:innen mit schwer heilbaren oder nicht heilbaren Wunden sind andere Aspekte entscheidend, um die beste Lebensqualität zu erhalten.
Eine frühzeitige und klare Bewertung des Heilungspotenzials bildet die Grundlage, um individuelle Therapiestrategien festzulegen, die auch belastende, wenig erfolgversprechende Maßnahmen vermeiden. Dies ermöglicht eine patient:innenzentrierte Versorgung, die auch das Selbstmanagement und die Ressourcen der Betroffenen gezielt fördert.
Symptomkontrolle im Fokus
Gerade bei multimorbiden und palliativen Patient:innen verschiebt sich der Fokus von der Frage „Heilen oder nicht?“ auf „Wie können wir am besten vor allem Symptome lindern und Lebensqualität erhalten?“. Ist die Heilung nicht mehr erreichbar, gewinnen Maßnahmen zur Kontrolle von Schmerzen, Geruch, Infektionen und Wundexsudat an Bedeutung. Durch ein interdisziplinäres Versorgungsteam können somit Symptome effektiv koordiniert und die Selbstständigkeit der Patient:innen langfristig gefördert werden. Diese symptomorientierte Versorgung stellt sicher, dass Lebensqualität erhalten bleibt, selbst wenn die Wunden chronisch bestehen bleiben.
Dies zeigt auch ein anschauliches Beispiel aus dem klinischen Alltag:
Eine Patientin leidet jahrelang unter einer schmerzhaften, schlecht heilenden Beinwunde, die ihr das Leben immer schwerer macht. Trotz zahlreicher Behandlungsversuche zeigt sich keine vollständige Heilung, wodurch Frustration und Hoffnungslosigkeit zunehmen. Gemeinsam mit ihr und ihren Angehörigen werden frühzeitig realistische Behandlungsziele festgelegt: Statt allein auf Heilung zu hoffen, rücken Schmerzlinderung, Infektionsschutz und der Erhalt ihrer Mobilität in den Mittelpunkt. Diese einfühlsame und patient:innenzentrierte Versorgung verbessert nicht nur ihr körperliches Wohlbefinden, sondern schenkt ihr auch neuen Lebensmut und mehr Selbstständigkeit im Alltag.
Fazit
Die Versorgung chronischer Wunden verlangt ein Umdenken hin zu realistischen, patient:innenzentrierten Zielen. Heilung allein reicht oft nicht aus – Schmerzreduktion, Infektionsschutz und Lebensqualität stehen im Fokus. Durch gemeinsame Entscheidungsfindung und individuell angepasste Therapie lassen sich Belastungen minimieren und die Selbstständigkeit der Patient:innen stärken. Modernes Wundmanagement bedeutet so vor allem, Lebensqualität zu erhalten, auch wenn die Wunde chronisch bleibt.
Quellen:
DER FUSS: Interview mit Prof. Dr. med. Joachim Dissemond. https://der-fuss.de/interview-mit-prof-dr-med-joachim-dissemond/ (abgerufen am 02.08.2025).
Dissemond, J., et al. „Wundbehandlung ohne kurative Zielsetzung: Ein Positionspapier der Initiative Chronische Wunden (ICW) e. V.“ Dermatologie, 2022, https://doi.org/10.1007/s00105-022-04973-y.

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